Japan ist ein geschichtsträchtiges Land, in dem die Majestät der kaiserlichen Dynastie und der Zorn der Samurais in der Kunst und der Volkskultur allgegenwärtig sind. In den letzten Jahren ist das Land aber auch für etwas anderes bekannt geworden – für Innovation und futuristische Technologien. Das Land hat sich zu einem führenden Land in der Unterhaltungselektronik und der Automobilindustrie entwickelt.
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Allerdings ist Japan auch die Heimat von etwas viel Einzigartigerem – einem Phänomen, das über seine bescheidenen Wurzeln hinausgewachsen ist und die Welt erobert hat. Die Rede ist natürlich von kawaii, der japanischen Kultur, die alles Niedliche feiert.
Kawaii kam in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aus Japan, aber seine Einflüsse reichen weit zurück. Sein Einfluss ist in der einen oder anderen Form in vielen Kulturen zu finden.
Hallo Kitty und Pikachu sind vielleicht die bekanntesten kawaii-Figuren, aber kawaii hat sich in allen Bereichen durchgesetzt, von westlicher Musik über Filme bis hin zu sozialem Aktivismus. Das Phänomen ist auch zu einem unwahrscheinlichen, aber effektiven Mittel gegen den Terrorismus geworden. Bevor wir ins Detail gehen, sollten wir uns einen Moment Zeit nehmen, um zu verstehen, was kawaii ist und was es mit sich bringt.
Was ist Kawaii?
Das Wort kawaii stammt von dem japanischen Wort kaohayushi, das während des goldenen Zeitalters Japans geprägt wurde. Diese Periode, die in der Geschichte als die Heian-Periode bekannt ist, war die Zeit zwischen 794 und 1185. Der ursprüngliche Begriff bedeutete etwas ganz anderes als heute. In der Vergangenheit wurde er verwendet, um einen erröteten Gesichtsausdruck zu beschreiben, der aus Verlegenheit oder Schuldgefühlen resultierte.
Im Laufe der Zeit wandelte sich der Begriff zu kawayushi und bezeichnete Begriffe wie Verletzlichkeit, Mitleid, Verlegenheit, Liebenswürdigkeit und Niedlichkeit. Dieser Begriff entwickelte sich während der Muromachi-Periode von 1336 bis 1573 zu dem heutigen Begriff kawaii. Dabei verlor der Begriff seine negative Konnotation und wurde zum Inbegriff von Liebenswürdigkeit und Niedlichkeit.
Wie aus der Geschichte von kawaii ersichtlich ist, hat der Begriff im Laufe der Jahre viele Veränderungen durchgemacht. Trotz dieser Veränderungen ist der Kern des Begriffs in all seinen Varianten gleich geblieben. Er bezeichnet alles, was Gefühle der Liebe, des Kuschelns oder einfach nur ein warmes und kuscheliges Gefühl der Glückseligkeit hervorruft. Kawaii ist pure Freude, die durch unschuldige und liebenswerte Dinge ausgelöst wird.
Was ist nicht Kawaii?
Kawaii-Kultur ist die Wertschätzung von allem, was niedlich ist. Niedlich bedeutet aber nicht schön oder perfekt. Ein Element, das alle Kawaii-Darstellungen gemeinsam haben, ist Asymmetrie und Unvollkommenheit. Unproportionierte Köpfe, kleine Nasen, große Münder oder gar keine Münder (man denke an Hello Kitty) sind allesamt wiederkehrende Elemente in kawaii Darstellungen.
Damit etwas kawaii ist, muss es nicht perfekt sein. Einige der besten Darstellungen von kawaii weisen subtile Unvollkommenheiten auf, die vielleicht nicht einmal auffallen. Fachleute glauben, dass Perfektion oberflächlich ist und ein Gefühl des Unbehagens erzeugt. Sie schafft es nicht, Freude auf eine Art und Weise zu erzeugen, die rein und authentisch ist. Die geheime Zutat von kawaii ist daher die Abwesenheit von Perfektion.
Eine weitere Sache, die kawaii nicht ist, ist ein statisches Phänomen. Wie seine Entwicklung zeigt, hat kawaii viele Phasen durchlaufen, um zu der Version zu werden, die es heute ist. Von Peinlichkeit über Schüchternheit bis hin zu Niedlichkeit – kawaii hat einen langen Weg hinter sich.
Seine Entwicklung ist auch nicht stehen geblieben. In den letzten Jahren sind neue Varianten von kawaii entstanden, die sich von den traditionellen Darstellungen von Niedlichkeit entfernen. Das Konzept wurde mit Gothic-Elementen und sogar mit Grausamkeiten kombiniert. Heute gibt es mehr als fünf verschiedene Darstellungen von kawaii.
![]( "Japans Kawaii-Kultur und wie sie Kunst, Popkultur und mehr beeinflusst 5")
Kawaii-Inspirationen rund um die Welt
Die wichtigsten Einflüsse von kawaii sind heute in der Popkultur zu finden. Ob Sänger oder fiktionale Charaktere, kawaii erobert die Welt. Die wahre Verkörperung von kawaii in der internationalen Musikindustrie ist die japanische Sängerin Kyary Pamyu Pamyu, bekannt für Candy Candy, Ponponpon und andere Hits.
Seit den späten 1900er Jahren ist kawaii auch in den Westen vorgedrungen. Es hat sich inzwischen so weit etabliert, dass seine Anspielungen in der Kleiderwahl und den Inhalten von Sängerinnen wie Nicki Minaj und Gwen Stefani sichtbar werden.
Wenn du denkst, dass du vor den Auswirkungen von Pokémon Go sicher bist, nur weil du nicht mit Nicki Minaj verkehrst, denk noch mal nach. All die Pokémon Go-Spieler, die auf der Straße versuchen, “sie alle zu fangen”, sind dem Kawaii genauso ausgesetzt wie Mädchen, die der Lolita-Mode frönen.
![]( "Japans Kawaii-Kultur und wie sie Kunst, Popkultur und mehr beeinflusst 8")
Kawaii als Werkzeug im sozialen Aktivismus
Wir haben über die sich ständig verändernde Natur von kawaii gesprochen, und nichts zeigt das deutlicher als seine Wandlung von einer popkulturellen Ästhetik zu einem politischen Instrument. Durch eine Mischung aus Unschuld und Niedlichkeit ist kawaii zu einem idealen Werkzeug geworden, um schwierige soziale und politische Themen anzusprechen.
Durch die Einbindung von kawaii können Kommentatoren die Wirkung einer Botschaft abschwächen, die bei einer anderen Darstellung für Empörung gesorgt hätte. Aus diesem Grund sind kawaii-Elemente in feministischen und weiblichen Gleichstellungsbewegungen immer wieder zu finden. Phrasen wie “f*** das Patriarchat” sind in Pastellfarben und zuckersüßen Schriftarten bei fast jeder Prozession zu sehen. Memes von Politikern und berühmten Persönlichkeiten, die kawaii-Elemente enthalten, sind ebenfalls keine Seltenheit mehr.
Kawaii gegen Ungerechtigkeit
Es ist eine Sache, kawaii in der Popkultur und im sozialen Aktivismus zu finden, und eine andere, es mit terroristischen Elementen konfrontiert zu sehen. Doch genau das hat kawaii in den letzten Jahren getan.
Zu den vielen Opfern der letzten fünf Jahre gehört auch die nahöstliche Terrororganisation ISIS. Nach der Enthauptung von zwei japanischen Journalisten im Jahr 2015 hat Japan auf einzigartige Weise Vergeltung geübt.
Anstatt in den sozialen Medien zu den Waffen gegen ISIS-Anhänger zu greifen, wählte die japanische Öffentlichkeit einen friedlichen Weg. Die Vergeltung kam in Form von ISIS-chan, einer grünhaarigen, mit Kalbfleisch bekleideten kawaii Lolita, die sich mit einer spritzigen Einstellung und einer japanischen Muskatmelone gegen den Terrorismus stellt.
Der Anime ist im Internet sehr populär geworden und hat eine Reihe von Fan-Fiction-Comics inspiriert. ISIS-chan wird als ein Mädchen beschrieben, das Gewalt nicht mit Gewalt bekämpft und extremistische Propaganda meidet.
So, wie bekämpft ISIS-chan den Terrorismus in der realen Welt? Das ist eine gute Frage. ISIS ist dafür bekannt, soziale Medien und Online-Foren zu nutzen, um gleichgesinnte Extremisten zu rekrutieren. Indem sie Suchmaschinen und Diskussionsforen mit ISIS-chan überschwemmen, kapert kawaii die Online-Präsenz, die ISIS für seine negative Agenda nutzt. Es stört die Propaganda und ersetzt sie durch harmloses Material.
Abschluss
Kawaii mag für Sonnenschein, Einhörner und Bäume aus Zuckerwatte werben (es sei denn, du betrachtest seine dunkleren Varianten), aber nicht alle sehen das so. Kritikerinnen und Kritiker bezweifeln die Wirksamkeit von Kawaii bei realen Problemen wie sozialen Ungerechtigkeiten. Reale Probleme haben reale Konsequenzen, und kawaii kann nichts dagegen tun. Ein Kritiker würde zum Beispiel argumentieren, dass ISIS-chan ISIS nicht zum Verschwinden bringen wird.
Auch wenn das stimmt, glauben Spezialisten für kawaii-Ausdrücke, dass kawaii auf eine einzigartige Weise funktioniert. Es beseitigt keine negativen Elemente, aber es dämpft die Negativität, die sie umgibt. Die Kraft von Kawaii gegen das Böse liegt in seinem positiven Einfluss. Es ist eine sanfte Macht, im Gegensatz zu jeder Form von Gewalt.
Kawaii weckt Gefühle der Freude, daher verwässert die Assoziation eines negativen Begriffs mit Kawaii seine Wirkung. Kawaii fördert Friedfertigkeit und Harmonie, ohne auf die gewalttätigen Taktiken zurückzugreifen, denen es sich entgegenstellt. Es hat die Online-Mitwirkenden unter dem Banner der Gewaltlosigkeit vereint und das Versprühen von Hass, für das das Internet gemeinhin bekannt ist, verhindert.
